Bericht zur Ausstellung: Jugend während der NS-Zeit in Lingen

Ein Geschichtsprojekt der Klasse 11b des Gymnasiums Georgianum unter Leitung von Frau Rickling in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Lingen

Im Rahmen des Geschichtsunterrichts führte die Klasse 11b im zweiten Halbjahr des Schuljahres 2005/06 mit ihrer Geschichtslehrerin Frau Rickling ein bisher einmaliges Projekt durch. Die 26 Schülerinnen und Schüler erforschten die Situation von Jugendlichen während der NS-Zeit in Lingen und hielten ihre Ergebnisse in einer ausführlichen Dokumentation fest. Das geschah in enger Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Lingen auf der Grundlage von Quellen und von Zeitzeugenbefragungen.
Das Projekt begann mit einem Besuch des Stadtarchivs. Stadtarchivar Dr. Remling referierte einerseits über die Situation in Lingen zur NS-Zeit und stellte andererseits die Arbeitsweisen im Archiv und die umfangreichen Materialien, insbesondere Fotosammlungen, vor. Dabei hob er hervor, dass die nationalsozialistische Führung das Fotografieren der Veranstaltungen und Versammlungen im Dritten Reich förderte. Die Jugendlichen wurden damals dazu aufgefordert, ihre Fotoerinnerungen in Alben festzuhalten. Deshalb sind aus dieser Zeit sehr viele Bilddokumente überliefert. Nicht vergessen werden darf dabei, dass die NS-Führung nur Bilder zuließ, welche die „positiven Seiten“ des Regimes und der Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 zeigten.
Schwerpunkt der Schülerarbeiten sollten Interviews mit Zeitzeugen sein. Wie ein solches Interview durchzuführen sei, wie man die richtigen Fragen stellt, wie man Abschweifungen im Gespräch verhindern kann, wurde den Schülern von Herrn Dr. Remling bei einem weiteren Termin in der Schule aufgezeigt.
Die Arbeit am Projekt erfolgte in Gruppen von zwei bis drei Schülern. Bei der Themenauswahl zeigte sich bald, dass das Thema „Schule“ von mehreren Gruppen gewünscht wurde, so dass nach Alternativen gesucht werden musste. Andere Schülervorschläge mussten aufgrund von fehlenden Materialien bzw. Interviewpartnern abgeändert oder eingegrenzt werden, so wurde z.B. aus dem Vorschlag „Widerstand“ das Thema „Nonkonformes Verhalten von Jugendlichen in der kirchlich gebundenen Jugend“.

Im Folgenden sind die Namen der Schüler mit ihren Themen sowie die Namen und das Alter der Interviewpartner aufgelistet.

Der Bund Deutscher Mädel (BDM)
Theresa Johnscher und Lena Senft
Interviewpartner: Luise Baun (Jg. 1923), Marie-Agnes Goldbach (Jg. 1923), Katharina Senft (Jg. 1928), Maria Johnscher (Jg. 1922) und Maria Hörtemöller (Jg. 1924)
Landjahr für Mädchen
Andrea Beinering, Anna Dust und Christine Oehm
Interviewpartner: Hanna Nolte (Jg. 1928) und Eleonore Heskamp (Jg. 1929)
Das Gymnasium Georgianum während der NS-Zeit
Annemarie Eick und Katharina Hellen
Interviewpartner: Karl-Ludwig Galle (Jg. 1928)
Die Städtische Höhere Mädchenschule in Lingen (1933-1945)
Stephanie Rosemann und Marieke Tenger
Interviewpartner: Michaela Galle (Jg. 1928)
Jugend am Arbeitsplatz
Jan Altmann und Dennis Waldschmidt
Interviewpartner: Ferdinand Altmann (Jg. 1921) und Maria Altmann (Jg. 1922)
Luftwaffenhelfer
Tim Stegemann und Max Vieth
Interviewpartner: Heinz Lammers (Jg. 1927) und Franz Schäfers (Jg. 1928)
Flieger – HJ
Manuel Köhne und Brian Lüken
Interviewpartner: Werner Kerlin (Jg. 1926) und Theodor Althoff (Jg. 1925)
Das Schicksal von jüdischen Jugendlichen in Lingen zur NS-Zeit
Christian Clausen, Katharina Jakob und Tobias Koch
Interviewpartner: Bernhard Grünberg (Jg. 1923) und Eberhard Gaalken (Jg. 1922)
Nonkonformes Verhalten von Jugendlichen
Carsten Stöber und Victoria Gronemeier
Interviewpartner: Klara Begger (Jg. 1913) und Bernhard Fritze (Jg. 1926)

In den folgenden Wochen erfolgte zum einen  im Unterricht die allgemeine Vorbereitung auf die Themen; zum anderen lasen die Schüler sich in ihr jeweiliges Thema ein. Dafür wurde im Klassenraum eine kleine Bücherei eingerichtet. Dann begann die mühsame Arbeit der Materialsuche und Sichtung der Quellen, vor allem im Stadtarchiv, aber auch in den Unterlagen des Georgianums. Die Schüler mussten erleben, dass stundenlanges Blättern in alten Zeitungen häufig nur zu einer einzigen, obendrein knappen brauchbaren Information führt, dass viele Quellen für sie  unlesbar waren, da sie in der damals üblichen Süterlin-Schreibschrift verfasst waren. Hier konnten manchmal Oma oder Opa bei der Entzifferung der alten Handschriften helfen.
Manche Schüler wurden schon sehr früh zu richtigen Experten auf ihrem Gebiet, manche ließen sich erst einmal sehr viel Zeit. Bis Ende März mussten alle Schüler eine Gliederung ihres Themas und eine Auflistung ihrer gefundenen Materialien bei ihrer Geschichtslehrerin Frau Rickling abgeben. Parallel dazu begannen sie, ihre Interviews durchzuführen. Die Namen erhielten sie zum großen Teil von Dr. Remling; der Kontakt wurde von den Schülern selbst hergestellt. Einige suchten sich noch weitere Interviewpartner aus dem Familien- und Bekanntenkreis. Die Gruppe mit dem Thema „BDM“ befragte gleich drei Großmütter!

Ein Höhepunkt in dieser Zeit war der Besuch von Bernhard Grünberg im Georgianum am 3. April 2006 (vgl. Foto). Bernhard Grünberg wurde 1923 in Lingen geboren und war Schüler des Georgianums, bis er 1937 die Schule verlassen musste, weil er Jude war. Er berichtete der Klasse 11b von seiner Zeit auf dem Georgianum, von dem Kindertransport, von seinem Lebensweg in England und von dem Schicksal seiner Familie: Keiner außer ihm hat den Holocaust überlebt.
Insgesamt haben die Schüler 19 Zeitzeugen befragt. Die Gespräche dauerten häufig mehrere Stunden. Die Interviews wurden zum Großteil auf Tonträger aufgezeichnet und im vollständigen Wortlaut transkribiert . Das ergab über 100 getippte Protokoll-Seiten! Die Ergebnisse aus den Interviews wurden den Mitschülern in Zwischenberichten während der Unterrichtsstunden vorgestellt. Bei diesen Gelegenheiten erfolgte auch eine kritische Hinterfragung der Interviews.
Die endgültigen Projektarbeiten sollten bis Ende Mai fertiggestellt werden. Auf der Basis der Schülerarbeiten, ergänzt durch Fotos und Dokumente, erarbeiteten Frau Meike Knue und Herr Dr. Remling vom Stadtarchiv eine Ausstellung, die 23 Tafeln umfasst. Am 16. September 2006 wurde sie beim Tag der Offenen Tür im Stadtarchiv der Öffentlichkeit vorgestellt (vgl. Pressebericht).
Zur Zeit ist die Ausstellung im zweiten Obergeschoss des Georgianums zu sehen.

Das Geschichtsprojekt verlangte von den Schülern ein hohes Maß an Zeitaufwand und Engagement, Selbständigkeit und Ausdauer. Auf der anderen Seite lernten sie, wie man wissenschaftlich arbeitet, d.h. wie man seine Zeit richtig einteilt, wie man Ergebnisse schriftlich verfasst und wie man sie demgegenüber mündlich vorstellt. Die eindrucksvollste und förderlichste Erfahrung für die Mädchen und Jungen war jedoch der unmittelbare Kontakt mit den Zeitzeugen. Sie erfuhren aus erster Hand, unter welchen Bedingungen die Jugendlichen damals in Lingen lebten: In der Schule oder im Beruf, in der Freizeit und der Familie, im Freundeskreis oder in der Öffentlichkeit. Dabei wurde ihnen auch deutlich, wie umfassend und intensiv die Nationalsozialisten die Jugend für ihre Ziele vereinnahmten.
Die Interviewpartner (Jahrgang 1913 bis 1929) erlebten engagierte Jugendliche, die interessiert nach ihren persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen fragten und sich viel Zeit fürs Zuhören nahmen.

OStR‘ Johanna Rickling, ehemalige Geschichtslehrerin am Georgianum