Hochbegabte 13-Jährige: So klappt es bei Jaïra Hibbel am Georgianum in Lingen

Lingen. Jaïra Hibbel besucht die achte Klasse des Gymnasiums Georgianum in Lingen. Überall steht sie „sehr gut“, also alles prima für die hochbegabte 13-Jährige? Es ist komplizierter.

Drei Freunde – Anton, Bert und Celine – treffen sich im Park zum Frisbee-Spielen. Wenn Anton keine Scheibe mitbringt, hat Bert sie dabei. Wenn er ohne Frisbeescheibe kommt, bringt Celine sie mit. Gestern war Bert ohne Scheibe im Park. Wer hatte eine dabei?

„Keine Ahnung, irgendeiner wird’s schon gewesen sein“, mag vielen da spontan als Antwort einfallen. Jaïra Hibbel denkt anders darüber nach. In Rechnungen und Gleichungen nämlich. Sie übersetzt die Aufgabe durch logische Schlussfolgerungen in eine mathematische Symbolsprache, so spielerisch leicht, wie die drei Freunde mit der Frisbee-Scheibe im Grünen umgehen.

Alles „sehr gut“, alles prima?

Die 13-jährige Niederländerin ist top in Mathe und in vielen anderen Fächern auch. Jaïras Eltern hatten schon sehr früh gemerkt, dass ihre Tochter außergewöhnlich intelligent ist. „Lesen konnte sie schon mit drei Jahren“, berichtet ihre Mutter Joëlle Hibbel. Die Familie aus den Niederlanden zog nach Deutschland, als Jaïra ins Grundschulalter kam. Die deutsche Sprache lernte sie schnell. Ihre Noten lagen zwischen „gut“ und „sehr gut“.

Dann der Wechsel zum Gymnasium Georgianum. Auch für Grundschüler mit hervorragenden Zeugnissen kann der Wechsel in die weiterführende Schule anfangs mitunter eine Hürde sein, die erst genommen werden muss. Für Jaïra war es keine. „Sie speichert alles ab und versteht rasch“, sagt die Mutter.

 Aber verstehen dies auch ihre Mitschüler? Verstehen im Sinne von Verständnis haben, nicht neidisch werden auf Bestnoten anderer, die für diese selbst trotz viel Übens häufig unerreichbar sind?

Schwierige erste Jahre

Jaïra, die auch Klavier und Geige spielt und in ihrer Freizeit gerne Sport treibt, antwortet mit einer Gegenfrage: „Wie kann ich sein, wie ich bin?“ Sie beschreibt diese ersten Jahre auf dem Georgianum als schwierig für sie und die Klassengemeinschaft.

Sich selbst und diese Begabung verstehen lernen, ohne sich zu isolieren, das ging nicht innerhalb von wenigen Schultagen. Dass diese Entwicklung dennoch gelungen ist, daran haben ihre Familie und die Schule selbst einen großen Anteil. Mutter Joëlle Hibbel formuliert einen Satz, der wie Leitplanken durch das Leben führen soll:

„Der Mensch besteht nicht nur aus seinen akademischen Möglichkeiten.“

Er werde erst wertvoll in Bezug zu anderen. Um schwierige Dinge später im Leben meistern zu können, „hilft auch eine Medaille bei einem Mathewettbewerb nicht“, betont die Mutter.

Den Eltern von Jaïra war es wichtig, dass sie das Georgianum weiter besucht, nicht beispielsweise auf ein Internat wechselt und die gewohnte familiäre und schulische Umgebung verlässt. Gleichzeitig sollte es aber auch darum gehen, eine Lernumgehung für das Mädchen zu schaffen, die Langeweile im Unterricht vermeidet.

„Ich habe mich ganz oft mit meinem Mann unterhalten, wie wir Jaïra gerecht werden können“, erzählt Joëlle Hibbel. Es müsse doch möglich sein, das Kind in einer normalen Schule zu lassen und dennoch weiter zu fördern.

Ein eigener Stundenplan

Es war möglich. Der Grundgedanke des Konzeptes basiert auf dem Prinzip, Freiräume zu schaffen. „Wir haben für Jaïra einen individuellen Stundenplan ausgearbeitet“, erläutert Julia Schlagge, die Klassenlehrerin des Mädchens seit der 7. Klasse.

Die 13-Jährige erhält eine Sonderförderung, indem sie nur wenige Stunden am Unterricht teilnimmt und in der anderen Zeit Projekte und komplexere Aufgaben bearbeitet. Das gilt insbesondere für das Fach Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer wie Chemie und Physik. Hier sorgen Fachlehrer wie Martin Glosemeyer,  Reinhard Fink und Marcel Mentrup für jede Menge Input.

„Wir wollen unseren Kindern helfen, ihren eigenen Weg zu gehen“, unterstreicht Schulleiter Manfred Heuer. Dafür müsse die Schule bereit sein, Freiheiten zu eröffnen und Selbstständigkeit zu ermöglichen. „So viel Freiheit wie möglich, so viel Kontrolle wie nötig“, erklärt Heuer.

Toleranz ist gewachsen

Das Ergebnis spiegelt sich nicht nur in erfolgreichen Wettbewerben wie zuletzt Jaïras Silbermedaille bei der Mathematik-Olympiade auf Landesebene wider. „Wir haben das Konzept für Jaïra in der Klassengemeinschaft besprochen“, berichtet Klassenlehrerin Schlagge. Sie hat inzwischen festgestellt, dass die Toleranz unter den Schülern größer geworden ist.

Das Mädchen bestätigt das und erzählt, wieviel Freude es zum Beispiel vor Weihnachten gemacht habe, zusammen mit den anderen in der Klasse die Tür zum Unterrichtsraum weihnachtlich zu schmücken.

„Dass Jaïra an jedem Thema interessiert ist, trägt die Klasse weiter“, sagt Pädagogin Schlagge. Die Schüler würden sich untereinander anders wahrnehmen. „Jeder wird so angenommen wie er ist, das war ein Prozess für alle“, erklärt die Englisch- und Politiklehrerin.

Und was ist mit Anton, Bert und Celine, den drei Freunden im Park? Gestern hatten Anton und Celine eine Frisbee-Scheibe dabei, Bert kam ohne.

Jaira löst die Aufgabe mit mathematischer Eleganz

Quelle: noz; 22.03.21 (online), 23.03.21 (Print); geschrieben von Thomas Pertz