Ein Schicksal, das uns mahnt – Georgianer pflegen Stolpersteine und Erinnerung

Zu einem „Stolperstein-Remember“ lud am vergangenen Samstag (4. Juni 2016) das Forum „Juden-Christen“ Schüler unserer Schule ein. Mit dieser Aktion rund um den Marktplatz wurde der Lingener Bürger jüdischen Glaubens gedacht, die während der Nazi-Diktatur diskriminiert und entrechtet, verfolgt und ermordet worden waren.

Zu Beginn begrüßte der Vorsitzende des Forums „Juden-Christen“ Heribert Lange neben den Stolperstein-Paten und Schülern von anderen Schulen auch die elf Georgianer herzlich und wies mit eindringlichen Worten auf die tiefere Bedeutung der Aktion hin. Denn es gehe wie schon 2012 und 2014 mit der gemeinschaftlichen Aktivität nicht nur darum, den verblassten Stolpersteinen einen neuen Glanz zu geben. Vielmehr liege der tiefere Sinn darin, sich an die Opfer des Nazi-Terros zu erinnern und damit ihr Schicksal in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken – eben auch als mahnendes Beispiel dafür, wohin eine wieder hoffähige und unwidersprochene Diskriminierung von Menschen führen kann.

Nach der kurzen Ansprache auf dem Gelände der Jüdischen Schule reinigten die Schüler unserer Schule dann zusammen mit Stolperstein-Paten und weiteren historisch Interessierten an insgesamt sechs Stationen die zugeteilten Messingtafeln. Dazu begaben sich die Schülerinnen und Schüler aus den Jahrgängen 6 – 11 zu den letzten frei gewählten Wohnhäusern der Verfolgten, vor denen die quadratischen Gedenktafeln niveaugleich mit der Straße eingelassen worden sind. An diesen ehemaligen Wohnorten der Terror-Opfer wienerte die Gruppe die Gedenktafeln und trug im Angedenken des jeweiligen Verfolgten dessen Schicksal in Form einer biografischen Notiz vor.

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie Stolperstein-Paten Herr Höltermann (4. v. r.) und Herr Kastein (1. v. r.) übernahmen an der zweiten Station die Pflege des Gedenksteins von Emma Wolff, die mit dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde verheiratet war und ein Textilgeschäft führte. Sie kam 1942 ins Ghetto Theresienstadt, wo sie wahrscheinlich auch starb.

OLYMPUS DIGITAL CAMERADirekt vorm Eingang zum historischen Teil des Bonifatius-Hospitals befindet sich die Messingtafel für Henriette Flatow, aus deren Lebenslauf Viktoria Tuppek (1. v.l.) vortrug: Sie war 1866 im ostpreußischen Wormditt geboren und 1915 von Rheine nach Lingen gezogen, wohnte hier in der Rheiner Straße und lebte seit etwa 1930 im St. Bonifatius-Hospital, wo sie als Hilfe in der Krankenhausküche arbeitete. Im Sommer 1942 wurde sie zusammen mit Emma Wolff und sechs weiteren jüdischen Lingenerinnen, in das „Altersghetto Theresienstadt“ deportiert, wo sie ein halbes Jahr später, 77-jährig, an den dort herrschenden unmenschlichen Lebensbedingungen starb.

OLYMPUS DIGITAL CAMERAVom Schicksal der Familie Herz berichtete Derya Kücüktas (2.v.l.).  Die Familie, deren Wurzeln in Lingen ins 18. Jahrhundert zurückreichten, betrieb ein Schlachtergeschäft. Hermann (geb. 1851) und seine Frau Elise hatten zehn Kinder, von denen nach heutigem  Kenntnisstand zwei Söhne sowie zwei Töchter den Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind. Den Holocaust überlebte die älteste Tochter und ein Sohn. Ihnen gelang die Emigration in die USA. Das Schicksal der anderen Kinder konnte bis heute nicht geklärt werden.

OLYMPUS DIGITAL CAMERAAn der Station für die Familie Hanauer, deren Gedenksteine Viktoria Tuppek (3.v.l.) und Derya Kücüktas nicht ohne Mühe zum Glänzen brachten, referierte Ricarda Singh (2.v.l.)  über die fünfköpfige Lingener Familie. Hermann Hanauer, geb.1888, hatte das Textilgeschäft seines Vaters in der Großen Straße übernommen und wohnte mit seiner Frau Elsa (Jg. 1900) und den vier Kindern im Haus in der Gymnasialstraße 1. Nach massiven Bedrohungen floh Hermann Hanauer im Oktober 1934 nach Belgien und ließ Ende 1936 seine Frau und zwei Kinder nachkommen. Auch die zwei Söhne stießen später über Dänemark dazu. 1940 nahm das sichere Familienleben mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht ein jähes Ende. Im August 1942 mussten sich die drei Söhne in Brüssel zum „Arbeitseinsatz“ melden, der sie dann nach Auschwitz in den Tod führte. Die Eltern tauchten mit der Tochter unter und hausten in einer Kellerwohnung, bis die Gestapo sie aufspürte. 1943 wurde Hermann und ein Jahr später Elsa Hanauer nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nur die Tochter überlebte in einem jüdischen Kinderheim und konnte nach dem Krieg mithilfe ihres Onkels in die USA auswandern.

OLYMPUS DIGITAL CAMERAAufhorchen ließ die Georgianer an dieser Station die Tatsache, dass Eduard Hanauer ein Mitschüler war und in den 1930er Jahren unsere Schule besuchte. Betroffen machte dann der Bericht darüber, dass seine Mitschüler ihn damals als Jude beschimpft, ausgegrenzt und diskriminiert hatten. Geschockt waren die heutigen Georgianer von der Tat, dass ihm ein Mitschüler mit einen Steinwurf eine schwere Kopfverletzung zufügte.

So wurde für alle anwesenden Georgianerinnen und Georgianern an diesem historischen Beispiel überaus sinnfällig, wie wichtig in unserer Schulgemeinschaft der faire, tolerante und vor allem der gewaltfreie Umgang miteinander ist. Damit ist und bleibt das, was Eduard Hanauer während seiner Zeit an unserer Schule erdulden musste, für uns auch heute noch ein Schicksal, das uns mahnt.

Text und Fotos: Stefan Roters.