Aus Kiew nach Lingen: Oksana Khomyn hilft ukrainischen Schülern am Georgianum

vom Jonas E. Koch


Seit Anfang des Jahres besuchen zehn Schüler aus der Ukraine das Gymnasium Georgianum in Lingen. Unterstützt werden sie nun durch die ausgebildete Lehrerin Oksana Khomyn, die selbst aus der Ukraine geflohen ist.

Bevor der Krieg begann, führte Oksana Khomyn ein normales Leben in Kiew. Als Explosionen die ukrainische Hauptstadt erschüttern, flieht Khomyn am 1. März zunächst in ihre Datscha, später in den durch russische Gräueltaten bekannt gewordenen Vorort Irpin. Von dort aus geht es weiter in die Westukraine.

Ihr Mann, der mit den Eltern noch in Kiew ist, arbeitet dort in der Baubranche. Weil derzeit aber wenig gebaut wird im Kriegsgebiet, engagiert er sich als Freiwilliger und hilft Journalisten vor Ort. Wie alle volljährigen und wehrfähigen Männer unter 60 darf er das Land aufgrund eines staatlichen Ausreiseverbotes derzeit nicht verlassen.

„Wir hatten ein normales, friedliches Leben.“

Oksana Khomyn

Weil ihre 16-jährige Tochter Olga vor drei Jahren für zwei Wochen das Georgianum besucht hat und bereits gutes Deutsch spricht, kam die Familie nach Lingen. Auch die Tochter engagiert sich: Sie erklärt, übersetzt und kommuniziert mit den Schulen in der Stadt.

Oksana Khomyn lernt dann die Lehrerin Cornelia Horas kennen, die als Lehrerin am Georgianum arbeitet und beim SKM Lingen engagiert ist. Sie stellt den Kontakt zu Schulleiter Manfred Heuer her. „Wir sind sehr froh, dass Frau Khomyn uns unterstützt. Für unsere ukrainischen Schülerinnen und Schüler ist es ungeheuer wichtig, eine erwachsene Ansprechpartnerin zu haben, die ihre Situation kennt, ihre Sprache spricht und an die sie sich vertrauensvoll mit ihren persönlichen Fragen wenden können“, erklärt Heuer.

„Beim Helfen fühle ich mich besser“

Khomyn hat sich über das Angebot gefreut, Schüler aus ihrer Heimat am Georgianum betreuen zu dürfen. „Beim Helfen fühle ich mich besser, weil ich Gutes für die Leute aus meinem Land tun kann“, erklärt sie ihre Motivation. „Herr Heuer und das ganze Kollegium helfen mir bei der Arbeit. Alle Kollegen hier sind sehr hilfsbereit.”

Khomyn erklärt den ukrainischen Schülern, was diese nicht kennen oder nicht verstehen. Zum Beispiel das deutsche Schulsystem, in dem Schüler ein Jahr länger zur Schule gehen als in der Ukraine. Es gibt eine Whatsapp-Gruppe, über die ihre Schüler sie jederzeit erreichen können. Dort gibt sie auch Rat zu Fragen nach der Zukunft, oder was ihre Schützlinge sonst auf dem Herzen haben. Auch die Eltern kommen oft auf sie zu, erzählt Khomyn.

„Es ist eine unglaubliche Situation: Vor sieben Monaten hätte ich mir nicht vorstellen können, dass sich mein Leben so verändert. Aber nicht alle Veränderungen sind schlecht.“

Oksana Khomyn

Für Schulleiter Heuer geht es aber nicht nur um Hilfe: „Ich bin mir sicher, dass nicht nur die ukrainischen Schülerinnen und Schüler, sondern auch unsere Schülerschaft von der Zusammenarbeit und dem Miteinander profitiert.”

Schüler sollen hart arbeiten

Sie habe durch die Flucht eine neue Möglichkeit bekommen, sagt Khomyn: „Wenn das Leben eine Tür schließt, öffnet es eine neue. Für mich und die ukrainischen Schüler ist das eine hervorragende Gelegenheit. Die Schule eröffnet uns gute Chancen für die Zukunft. Für die, die hier bleiben wollen, aber auch für die, die zurückgehen wollen.” Wer möchte, kann über das digitale Bildungssystem, dass die Ukraine während der Pandemie auf die Beine gestellt hat, auch aus Lingen ukrainischen Schulunterricht besuchen.

„Meine Schüler fragen mich oft, wie sie nach der Schule weitermachen können, zum Beispiel wie sie studieren können. Ich sage ihnen dann, dass sie hart arbeiten sollen und dann alles möglich ist”, sagt Oksana Khomyn. Mit einem ukrainischen Abschluss ist dann über Umwege auch der Besuch einer Universität möglich. Aber auch ein deutsches Abitur können die ukrainischen Schüler absolvieren.

Schulleiter beabsichtigt Sprachunterricht

Schulleiter Heuer plant schon weiter: „Wir als Schule können uns vorstellen, Frau Khomyn, die eine ausgebildete Lehrerin für Englisch und Literatur ist, auch unterrichten zu lassen. Sie könnte beispielsweise ein Seminarfach zu ‚ukrainischer Sprache und Kultur‘ in englischer Sprache anbieten.“

Mit vergleichbaren Angeboten für Russisch, Chinesisch und Japanisch hat die Schule bereits gute Erfahrungen gemacht. Schulleiter Manfred Heuer ist sich sicher: „Unsere Schülerinnen und Schüler werden die Zukunft nicht ohne interkulturelle Kompetenzen und ein gegenseitiges Verständnis gestalten können.“

Rückkehr zunächst ausgeschlossen

Vor allem die Geflüchteten aus russisch besetzten Gebieten planen erst einmal keine Rückkehr. Aber auch die anderen Familien wollen vorerst nicht zurück, erklärt Khomyn. Sie hat dafür Verständnis:  „Zurzeit besteht dort ein hohes Risiko für 18-jährige Männer, ein Soldat zu werden. Ich habe einen elfjährigen Sohn und kann ihn mir in sieben Jahren nicht mit einer Waffe vorstellen.“

Keine langfristigen Pläne

Noch weiter in die Zukunft mag sie nicht blicken: „Vor dem Krieg habe ich Langzeitpläne gemacht, jetzt für maximal ein halbes Jahr, weil mein Leben heutzutage unvorhersehbar ist.“ Ihre Tochter Olga tickt da anders. Für sie steht fest: Sie will zur Universität und studieren.

Khomyn selbst will sich in Lingen entwickeln und nicht von staatlicher Hilfe abhängig sein. Für sie steht fest: „Wenn ich hierbleiben möchte, muss ich mich integrieren und die Sprache schnell lernen.” Deswegen will sie ihr Diplom nachholen, um auch in Deutschland als Lehrerin arbeiten zu dürfen.

noz.de vom 14.09.2022