Zeitzeugen berichten im Lingener Gymnasium

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Ihre traumatischen Kindheit- und Jugenderlebnisse schilderten die vier polnischen Gäste als Zeitzeugen den Zehntklässlern im Gymnasium Georgianum. Foto: Johannes Franke

Aufmerksam hören die Zehntklässler im Gymnasium Georgianum zu, als ihnen die vier über 80-jährigen polnischen Gäste ihre Lebensgeschichten schildern. Auf Einladung des Maximilian-Kolbe-Werkes verbringen sie zwei Wochen im Ludwig-Windthorst-Haus (LWH). Die drei Frauen und ein Mann sind gekommen, um als Zeitzeugen vom Holocaust zu berichten.

Diese Menschen haben das Grauen überlebt, und die Erinnerung daran ist auch nach 75 Jahren für den 81-jährigen Ryszard Gwiazda lebendig. Seine Familie wollte sich nicht germanisieren lassen, wurde verhaftet, die Eltern von ihren Kindern getrennt. Der Sechsjährige und sein vier Wochen alter Bruder Andrzej wurden nach der Selektion Hildegard und Reinhard Wolf, ein hochrangiger Offizier in Hamburg, zugeteilt. Über Jahre erfuhr Ryszard als leiblicher Kinderersatz wenig Zuneigung in der vornehmen Villa. Die deutsche Sprache fiel ihm schwer. Er wurde geschlagen, schikaniert, erhielt nur wenig zu essen. „Nur der Hund hing instinktiv an mir, ließ mir Futter in seinem Napf übrig, was ich heimlich aß.“ Reinhard Wolf wollte die Kinder nicht mehr, nach mehreren Lageraufenthalten kam sie nach Lodz. „Hier haben uns im Juli 1942 unsere Eltern wiedergefunden.“ Dieses Glück hatten nur wenige.

„Verdeutschung“ polnischer Kinder

Alodia Witaszek ist gerade mal fünf Jahre jung, als ihr Vater, ein angesehener Arzt und Wissenschaftler an der Universität Poznań 1943 als Widerstandskämpfer von den Nationalsozialisten hingerichtet wird. Sie und ihre jüngere Schwester werden später vom sogenannten Rasse-Amt untersucht und aufgrund ihrer blonden Haare und blauen Augen als „rassenützlich“ eingestuft. 1943 verhaftet die Gestapo die Mädchen und bringt sie in das berüchtigte „Jugendverwahrlager Litzmannstadt“ im heutigen Lodz. Sechs Wochen hausen sie in der Baracke für „rassennützliche“ Kinder, kommen in ein „Gau-Kinderheim“, eine Einrichtung zur „Verdeutschung“ polnischer Kinder. Im „Lebensborn-Heim“ in Bad Polzin erhält sie den Name Alice Wittke, und wird im April 1944 als „Geschenk des Führers“ einer deutschen Familie zur Adoption übergeben.

Kind mit zwei Müttern

Ihre leibliche Mutter überlebt die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück und sucht nach Kriegsende ihre verschleppten Töchter, die sie kurz vor Weihnachten 1947 findet. Alodia und Daria kehren zu ihr zurück, muss ihre Muttersprache neu lernen. Ihre Mutter und die deutsche „Mutti“ lernen sich Jahre später kennen, schließen sogar Freundschaft. Bis heute sei sie ein „Kind mit zwei Müttern“.

Von 1000 Frauen überleben 230

Irena Jaszczuk wurde als 14-Jährige mit ihrer Mutter und zwei Brüdern vom Bauerngut vertrieben und ins Unbekannte abtransportiert. Bis zum Ausbruch des Warschauer Aufstandes habe sie in den Städtischen Verkehrsbetrieben gearbeitet, am 10. August 1944 von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Grausamkeiten und Erniedrigungen musste sie ertragen, kam mit 1000 anderen Frauen ins Lager Bergen-Belsen. Sie habe im „Kommando Kartoffel – Rüben“ gearbeitet. 25 Häftlinge, Frauen, hatten einen Pferdewagen, nur ohne Pferd. „Wir haben damit Rüben vom Feld gefahren. Es war sehr schwer. Ich war an der Deichsel.“ Sie erkrankte später an einer Typhusepidemie und Läuseseuche, wurde schwer krank, wog nur noch 32 Kilogramm. Von 1000 Frauen überlebten nur 230, die am 15. April 1945 durch die Alliierten befreit wurden.

„Auswirkungen auf mein ganzes Leben“

Die 82-jährige Janina Reklajtis stammt aus einer Arbeiterfamilie in Warschau. Während des Aufstandes wurde ihr Bruder Jerzy verhaftet, nach Auschwitz deportiert und musste anschließend Zwangsarbeit in einem deutschen Steinbruch verrichten. Ihr Vater wurde in das KZ Buchenwald deportiert, wo er im Dezember 1944 starb. „Am 5. August 1944 wurde ich gemeinsam mit meiner Mutter brutal aus unserem Haus verjagt. Am 12. August brachte man uns in Waggons nach Auschwitz-Birkenau. Dort wurde ich von meiner Familie getrennt und blieb dort bis zum 17. Januar 1945. Die Erlebnisse in diesem Todeslager haben Auswirkungen auf mein ganzes Leben“, sagt sie mit stockender Stimme.

Eine Dimension, die alles sprengt

Die persönlichen Schicksale und Lebensgeschichten der Zeitzeugen vernehmen die Schüler still und konzentriert. Nach einiger Zeit löst sich das betretene Schweigen und die Schüler stellen Fragen. „Ein absolut wichtiger Besuch in unserer Schule, Menschen kennen zu lernen, von den Betroffenen zu hören, was sie erlebten, erleiden mussten. In unseren Geschichtsbüchern steht darüber nichts“, fasst es ein Zehntklässler zusammen. Eine Schülerin sagt, sie sei dankbar, die Zeitzeugen erlebt zu haben. „Ich weiß nicht, ob die jüngeren Schüler noch diese Chance bekommen“, meinte sie. Auch Markus Wellmann (LWH), der die Polen während ihres Aufenthaltes begleitet, ist froh, sie erleben zu dürfen. „Ich habe schnell gemerkt, dass die Erzählungen der Zeitzeugen eine Dimension eröffnen, die alles sprengt. Die Unbegreiflichkeit der Verbrechen wird nach dem Hören der Erlebnisse noch größer“, stellt er fest.

Text: Johannes Franke

Lingener Tagespost vom 16.06.2016